Ziviler Ungehorsam für trans*, inter*, non-binäre und agender (= TINA) Menschen
Dieser Leitfaden des Trans-Action-Kollektivs soll eine Hilfestellung sein für TINA-Personen (d.h. Menschen, die trans*, inter, non-binär und/oder agender sind), die an Aktionen des zivilen Ungehorsams teilnehmen. Er wurde von Menschen aus Nord-, West- und Südeuropa verfasst, die ihre Erfahrungen als genderqueere Aktivist*innen und Trainer*innen, vor allem in der Klimagerechtigkeits-Bewegung, eingebracht haben.
Der Leitfaden wendet sich direkt an TINA. Wir sehen die Notwendigkeit, Informationen bereitzustellen, die es TINA ermöglichen, über die besonderen Risiken und Möglichkeiten nachzudenken, denen sie bei der Teilnahme an Aktionen des zivilen Ungehorsams ausgesetzt sind. Wir möchten jedoch die Verantwortung der Bewegung als Ganzes und ihrer Organisator*innen im Besonderen betonen. Der Aktivismus für Klimagerechtigkeit – und viele andere gleichgesinnte Kämpfe – scheinen von einer bestimmten Art von Aktivist*innen und Körpern auszugehen, die an ihren Aktionen teilnehmen: ein weißer, cis, nicht behinderter, neurotypischer (und manchmal sogar männlicher) Körper. Der Cis-Sexismus, mit dem TINA konfrontiert sind, ist wie alle anderen Formen der Diskriminierung von Randgruppen, nicht ihre Verantwortung. Vielmehr sind dafür die Menschen verantwortlich, die von unterdrückerischen Macht- und Privilegiensystemen profitieren. Deshalb muss sich die Bewegung als Ganzes, aber vor allem die Organisator*innen und Unterstützungsstrukturen, mit den Erfahrungen von TINA genauso auseinandersetzen wie mit denen jeder anderen marginalisierten Gruppe. Wenn du trans*, inter, nicht-binär und/oder agender bist, laden wir dich ein, diese Hinweise für dich selbst zu berücksichtigen. Wenn du es nicht bist, denk bitte über deine eigenen Privilegen nach und baue die unterdrückerischen Strukturen ab, unter denen deine TINA-Genoss*innen und viele andere marginalisierte Menschen leiden.
Bitte bedenke, dass keiner dieser Hinweise garantiert angewendet werden kann, insbesondere da das Verhalten der Polizei in hohem Maße von den Umständen abhängig und unvorhersehbar ist.
Was vor der Aktion zu bedenken ist /// Checkliste vor der Aktion
Als TINA sind wir bei der Teilnahme an Aktionen des zivilen Ungehorsams besonderen Risiken ausgesetzt. Gewalt und Diskriminierung gegen genderqueere Menschen ist skandalöserweise alltäglich, insbesondere durch die Polizei:
„Es wird von zahlreichen Fällen berichtet, in denen verbale Beschimpfungen in physische Gewalt eskaliert sind, wobei Polizeibeamte LGBTQ+-Personen in unangemessener Weise berühren, schlagen und Zwangsmaßnahmen gegen sie ergreifen (…..). Übermäßiger Einsatz von verbaler und physischer Gewalt tritt in der Regel auf, wenn queere Personen kriminalisiert werden, und während einige Praktiken mit der Absicht der Demütigung und Verletzung ausgeübt werden, gehen andere mit sexueller Belästigung einher. “ 1)
Natürlich gibt es auch rassistische, sexistische, ableistische, klassistische und andere Formen der Unterdrückung – und sie überschneiden sich mit dem cis- oder TINA-Sein. Wir als TINA haben jedoch spezifische Bedürfnisse, Anliegen und Schwachstellen, die eine besondere Berücksichtigung erfordern. Daher gibt es mehrere wichtige Aspekte, die vor einer Aktion zu berücksichtigen werden sollten. Wir empfehlen, sich (und anderen) einige Reflektionsfragen zu stellen, bevor mensch sich an Aktionen des zivilen Ungehorsams oder anderen Protesten beteiligt. Bitte bedenke, dass jede*r Mensch spezifische Bedürfnisse und Anliegen in Bezug auf seine intersektionalen Erfahrungen mit Rasse, Klasse, Geschlecht, Be*hinderungen und vielem mehr haben wird.
Einige grundlegende Fragen, bevor man sich an Aktionen des zivilen Ungehorsams beteiligt:
- Welchen Risiken bin ich bereit, mich während der Aktion auszusetzen? Wenn du dir nicht sicher bist, welche Risiken du eingehen könntest, sprich mit den Organisator*innen der Aktion oder mit anderen, die Erfahrung mit Aktionen des zivilen Ungehorsams haben. Die Organisator*innen haben möglicherweise ein juristisches Briefing vorbereitet, das über die Risiken einer Festnahme und einer möglichen Anklage informiert, aber es kann auch andere Risiken geben, die über rechtliche Konsequenzen hinausgehen.
- Bin ich bereit, meine Identität von der Polizei aufnehmen zu lassen, festgenommen, inhaftiert oder eingesperrt zu werden?
- Mit wem fühle ich mich sicher, wenn ich an der Aktion teilnehme? Haben wir die gleiche Vorstellung davon, welche Risiken wir bereit sind, einzugehen oder uns ihnen auszusetzen?
- Gibt es jemanden (der nicht an der Aktion teilnimmt), der mich/uns vor, während und nach der Aktion unterstützen kann? Werde ich diese Person im Voraus über die Aktion und meine Teilnahme informieren? Wenn ja, was muss sie wissen, um mir helfen zu können? Wann sollte sie kontaktiert werden?
Einige TINA-spezifische Überlegungen zu Aktionen des zivilen Ungehorsams:
Zum Thema Aktions-Buddies:
- Wir empfehlen nachdrücklich, dass ihr euch gegenüber eurem Aktions-Buddy als TINA zu erkennen gebt. Wenn du dich mit deine*r Aktions-Buddy nicht sicher genug fühlst, um diese Informationen zu teilen, wirst du dich auch später in einer Aktion nicht sicher fühlen!
- Sprich mit deine*r Buddy über die spezifischen Bedürfnisse, Ängste und Grenzen, die du als TINA-Person bei der Aktion haben könntest.
- Überlege, ob du dich mit jemandem zusammentun willst, der das gleiche gelesene binäre Geschlecht hat wie du. Wir wünschten, wir müssten diesen Rat nicht geben, und wir sind uns bewusst, dass dies für Menschen, deren Geschlechtsausdruck in keine binäre Kategorie passt, vielleicht gar nicht möglich ist. Wenn du und dein Buddy jedoch das gleiche gelesene Geschlecht haben, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ihr gemeinsam in Gewahrsam genommen werdet und länger zusammenbleibt (obwohl es keine Garantie dafür gibt, dass ihr gemeinsam in Gewahrsam genommen werdet, selbst wenn die Polizei euch als das gleiche Geschlecht behandelt).
- Denk daran, dass dies nützlich sein kann, wenn du eine binäre ID hast, mit der du dich wohl fühlst und/oder wenn du „cis-passing“ bist.
- Eine mögliche Alternative ist es, mit anderen Leuten aus deiner Bezugsgruppe zu klären, ob sie im Falle einer Verhaftung auf dich aufpassen könnten. Wenn du zu einer Gruppe gehörst, in der alle außer dir das gleiche angenommene Geschlecht haben, kannst du auch andere Freunde oder Bekannte fragen, die an der Aktion teilnehmen.
Zum Thema Bezugs-/Aktionsgruppen:
- Willst du dich als TINA outen? Und gegenüber wem genau?
- Dies sollte eine Entscheidung sein, die auf deinem eigenen Wohlbefinden beruht, aber es ist eine wichtige Entscheidung, die du treffen musst.
- Jedes TINA-spezifische Bedürfnis kann geäußert werden, ohne sich zu outen! Bedürfnisse müssen nicht erklärt oder gerechtfertigt werden.
- Wenn die Gruppe schlecht darauf reagiert, dass du TINA bist:
- Versuche idealerweise, schon im Vorhinein eine Bezugsgruppe mit Leuten zu bilden, denen du vertraust.
- Verlasse die Gruppe und die Aktion, wenn du dich unsicher fühlst! Es macht wahrscheinlich keinen Sinn, zu argumentieren und zu versuchen, sie davon zu überzeugen, dich und deine Bedürfnisse zu respektieren.
Zum Thema Unterstützungsstrukturen:
- Gibt es ein juristisches Team für diese Aktion? Inwieweit trägt diese juristische Unterstützung deinen Bedürfnissen als TINA-Person Rechnung? Kannst du dich im Voraus mit ihnen in Verbindung setzen, um das herauszufinden? Falls sie noch nicht informiert sind, informiere sie über die möglichen Risiken und besonderen Schwachstellen, denen TINA-Personen gegenüber der Polizei ausgesetzt sind. Bitte fordere sie auf, sich auf diese Situationen vorzubereiten, damit sie deine Sicherheit und Unterstützung bestmöglich gewährleisten können.
- Kannst du dich mit den Organisator*innen und dem Legal Team für diese Aktion in Verbindung setzen? Inwieweit sind sie sich deiner Bedürfnisse als TINA-Person bewusst? Kannst du sie bitten, deine Bedürfnisse zu respektieren?
- Gibt es anti-diskriminierende Unterstützungsstrukturen? Auch wenn sie sich nicht ausdrücklich mit TINA-Diskriminierung befassen, ist es wahrscheinlich ein gutes Zeichen, dass die Organisator*innen ein Bewusstsein für diskriminierende Machtstrukturen haben. Insbesondere wenn es eine Arbeitsgruppe zur Bekämpfung von Unterdrückung gibt (manchmal auch als „Sensibilisierungsgruppe“ / „Awareness Gruppe“ bezeichnet), solltest du in der Lage sein, dort Unterstützung zu finden.
Weniger risikoreiche Aufgaben und Rollen:
- Wenn du dich rechtzeitig vor der Aktion an die Organisator*innen wendest, kannst du dich vielleicht an der Vorbereitung und Unterstützung der Aktion beteiligen, was mit einem geringeren Risiko verbunden sein könnte. Unterstützende Aufgaben sind für jede erfolgreiche Aktion entscheidend – du musst keine Konfrontation oder Verhaftung riskieren, um ein wichtiger Teil der Aktion zu sein!
- Rollen im Vorfeld der Aktion: Auskundschaften, Materialbau, Einkauf von Lebensmitteln/Materialien, Verteilung von Flugblättern/Plakaten, Transport von Material und Personen, Banner malen, etc.
- Während der Aktion: Kochen, Aktionslogistik, Rechtsbeobachtung, Rechtshilfe
- Aufgaben nach der Aktion: Unterstützung der Verhafteten, Abbau des Camps.
- Du kannst auch überprüfen, ob parallel dazu Aktionen mit geringerem Risiko stattfinden! Wenn es keine gibt, noch Zeit ist und du dich sicherer fühlst, frag die Organisator*innen, ob du helfen kannst, eine kreative oder parallele Aktion zu organisieren!
Zum Thema Repression:
- Es ist äußerst wichtig, so gut wie möglich vorbereitet zu sein, um im Falle einer Verhaftung deine größtmögliche Sicherheit zu gewährleisten. Die Polizei wird nicht für deine Sicherheit sorgen; du musst für deine eigene Sicherheit und die deiner Aktionsgruppe sorgen.
- Willst du deinen Ausweis mitnehmen? Dies ist eine wichtige Entscheidung für jede*n (und hängt von einer Reihe kontextspezifischer Faktoren ab, wie z. B. dem rechtlichen Rahmen, der die Pflicht zum Mitführen eines Ausweises regelt), aber es ist besonders wichtig, darüber nachzudenken, wenn dein Ausweis entweder nicht mit deinem Geschlecht/Namen übereinstimmt ODER mit deinem Geschlecht übereinstimmt und dir helfen könnte, deinem Geschlecht entsprechend behandelt zu werden (obwohl wir das nicht garantieren können).
- Erkundige dich bei den Organisator*innen der Aktion, welche Konsequenzen das Mitführen oder Nichtmitführen eines Ausweises in deinem Umfeld hat.
- Überlege, wie du mit Transfeindlichkeit von Seiten der Polizei, mit der Nennung von Namen (wenn du einen inkongruenten Ausweis bei dir trägst) oder mit anderen diskriminierenden Befragungen (z. B. besteht bei einer Festnahme die Gefahr von transfeindlicher Gewalt) umgehen kannst.
- Überlege dir, ob und wie du dich dazu äußern willst, mit welchem Geschlecht du durchsucht/in Gewahrsam genommen werden willst.
- Wenn es am Ort des Geschehens mehr als zwei gesetzlich anerkannte Geschlechtsoptionen gibt, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass die Polizei auch nicht-binäre Geschlechter kennt. Es ist jedoch immer noch unwahrscheinlich, dass die Polizei genderqueeren Personen in zufriedenstellender Weise entgegenkommen wird: Eine realistische Möglichkeit ist, dass die Polizei denjenigen, die einen nicht-binären Ausweis besitzen oder ein nicht-binäres Geschlecht angeben, die Wahl lässt, als welches binäre Geschlecht sie lieber behandelt werden möchten. Eine andere realistische Möglichkeit ist, dass die Polizei alle Menschen nach ihrer eigenen Vorstellung vom binären Geschlecht behandelt.
- Informiere dich über deine Rechte, wenn du von der Polizei durchsucht wirst! In einigen Ländern gibt es entweder auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene Richtlinien für die polizeiliche Praxis in Bezug auf TINA. Es kann durchaus sein, dass die Polizei diese Richtlinien in der Praxis ignoriert, aber es kann in manchen Situationen helfen, wenn du deine Rechte kennst und sie lautstark einforderst. Sei jedoch vorsichtig: Manchmal kann das Beharren auf deinen Rechten nach hinten losgehen und dich in die Gefahr transfeindlicher Gewalt bringen. Sei besonders vorsichtig, wenn du dich outest.
- Frage dich: Wie kann ich für mich selbst sorgen, wenn ich von transfeindlicher Behandlung, Diskriminierung oder Gewalt betroffen bin? Welche Unterstützung benötige ich von anderen und wie kann ich sie im Voraus informieren?
Nach der Aktion/Out of Action
Alle Aktionen sollten eine Nachbetreuung beinhalten. Dies ist wichtig, um die höchstwahrscheinlich sehr intensiven und in manchen Fällen traumatischen Erlebnisse, die während der Aktionen des zivilen Ungehorsams auftreten, zu bewältigen und zu verarbeiten. Es mag einfach klingen, aber über das Erlebte zu sprechen, ist eine der besten Möglichkeiten, es zu verarbeiten! Selbst wenn du denkst, dass du schon oft verhaftet wurdest und es dich nicht beeinträchtigt, kann das Sprechen über die Erfahrung Dinge zu Tage fördern, die du selbst nicht bemerkt hast, die aber dennoch ernst sind. Dazu kannst du zum Beispiel Folgendes tun:
- Vereinbare vor der Aktion ein Nachbesprechungsgespräch mit einer verständnisvollen und unterstützenden Person, insbesondere in Bezug auf TINA-Themen.
- Wenn du Diskriminierung oder Misshandlung durch Polizei oder Behörden aufgrund deines Geschlechts erfährst, erwäge, dich mit einer TINA-Organisation in Verbindung zu setzen, um (rechtliche) Beratung zur Veröffentlichung oder Anzeige der Diskriminierung zu erhalten.
- Erwäge eine Auswertung mit deiner Bezugsgruppe zum Thema Geschlechterdynamik.
- Es kann sehr gut sein, sich an allgemeine Strukturen zur Unterstützung von Wohlbefinden oder Trauma zu wenden.
Wie Audre Lorde und viele andere es ausdrückten: Selbstfürsorge ist eine revolutionäre Praxis und die Grundlage jeder politischen Arbeit. Kenne deine Bedürfnisse und Grenzen; überfordere dich nicht. Aber lass dich auch nicht von Repressionen abschrecken – mutig zu sein bedeutet nicht, keine Angst zu haben, sondern die Angst zu überwinden.
Falls du Binder trägst, können wir dir diese Tips empfehlen, die aus einem deutschen Kontext stammen: https://ende-gelaende.org/aktion-trans-masc
Gib diesen Leitfaden an deine TINA-Genoss*innen, Freundeskreise oder Aktionsorganisator*innen weiter!
***
1) Rachele Girardi (2021) ‘It’s easy to mistrust police when they keep on killing us’: A queer exploration of police violence and LGBTQ+ Victimization, Journal of Gender Studies, DOI: 10.1080/09589236.2021.1979481